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«Herr, du weisst…»



Unzählige Gebete beginnen mit diesem Satz. «Herr, du weisst, wir sind jetzt hier versammelt.» – «Herr, du weisst, Herr, du weisst, Pauls Hund ist krank.» – «Herr du weisst,…». Zeit, mal über diese Gebetseröffnung nachzudenken. Selbstverständlich werde ich mich hüten, dir vorzuschreiben, wie du zu beten hast. Gebet ist Gespräch mit Gott – wehe dem Theologen, der sich mit Hornbrille und erhobenem Zeigefinger in das intime Gespräch zwischen Gott und Mensch drängt und Gebetsvorgaben gibt! Wenn du also diesen Beitrag fertiggelesen hast und dennoch bis ans Ende deiner Erdentage «Herr, du weisst…» beten möchtest: alles gut!


Wenn du trotzdem mal darüber nachdenken möchtest, was diese Gebetseröffnung für eine Funktion hat und warum wir so beten, dann ist dieser Blogbeitrag etwas für dich:


«Herr» sagen, aber die Menschen meinen

Die «Herr, du weisst»-Formel ist aus meiner Sicht ein Kuriosum:


«Herr, du weisst» zu beten, heisst: Ich informiere Gott darüber, dass er bereits etwas weiss. Zur Erinnerung: Gott ist allwissend. Er weiss bereits, dass ich weiss, dass er es weiss. Warum also sollte ich so beten?


Wenn meine Frau weiss, dass wir im Sommer nach Südfrankreich in die Ferien fahren, kann ich jederzeit an das gemeinsame Wissen anknüpfen. «Du weisst,…» kommt in zwischenmenschlichen Gesprächen fast nie vor. Dieser überflüssige Zusatz wird eher als Affront empfunden. Tatsächlich löst er auf der Beziehungsebene genau das Gegenteil dessen aus, was er inhaltlich aussagt: Er impliziert, dass ich unsicher bin, ob sich mein Gesprächspartner tatsächlich noch daran erinnert, was ich damals gesagt habe («Du weisst doch noch, dass ich dir vorgestern gesagt habe, du sollst…»).


In der Regel eröffnen wir unser Gebet nicht mit «Herr, du weisst», um Gott zu informieren, sondern um die Mitbetenden auf den neusten Stand zu bringen. Natürlich weiss der Herr bereits, dass Pauls Hund krank ist, aber möglicherweise weiss es die Beterin neben mir noch nicht. Oder alle wissen es bereits, aber ich muss ankündigen, dass wir das Thema wechseln und nun nicht mehr für Isabelles Goldfisch, sondern für Pauls Hund beten. Also wähle ich die «Herr, du weisst…»-Eröffnung.


Obwohl ich also den Herrn anspreche, rede ich in diesem Moment zu den Menschen. Man könnte den Wechsel auch anders vollziehen, z. B. indem man die vertikale Gesprächsebene kurz verlässt und ganz horizontal zu den Mitbetenden sagt: «Komm, wir beten jetzt für Pauls Hund». Aber das hört sich weniger fromm an.


Der Herr weiss von nichts

Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb diese Gebetsformel etwas seltsam anmutet. Dieser zweite Grund ist paradox: Gott weiss es manchmal gar nicht! Nicht immer entspricht Gottes Kenntnisstand dem unseren. Manchmal wissen alle, was passiert ist – nur Gott scheint von nichts zu wissen.


In der Bibel gibt es eine Geschichte, die das verdeutlicht. Die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus ist soeben gestorben (Mk 5,21ff.). Der Klagegesang wird bereits angestimmt, Scharen von Menschen versammeln sich um die Familie des Synagogenvorstehers, in dessen Haus das verstorbene zwölfjährige Mädchen liegt. Alle wissen, dass das Mädchen tot ist – nur Jesus nicht:


«Als sie zum Haus des Synagogenvorstehers kamen und Jesus sah, wie alles in heller Aufregung war und wie die Menschen laut weinten und klagten, ging er hinein und sagte zu ihnen: »Was soll diese Aufregung? Warum weint ihr? Das Kind ist nicht tot, es schläft nur.« Da lachten sie ihn aus.» (Mk 5,38–40a)


Die Reaktion der Menschen ist verständlich. Sie werden doch ein totes von einem schlafenden Kind unterscheiden können! Was soll dieser lapidare Satz: «Das Kind ist nicht tot»?


In der Realität, in der Jesus lebt – derjenigen des himmlischen Vaters – ist das Kind tatsächlich nicht tot. Fünf Zeilen später in der Geschichte wird Jesus das Mädchen bei der Hand fassen und sagen: «Talita kum! – Mädchen, steh auf!», und das zwölfjährige Teeniemädchen wird aufstehen, als wäre es lediglich von einem pubertätsbedingten Tagesschlaf aufgeweckt worden.


Was ist denn Gebet? Ein Gespräch, in dem wir Gott über unser Leben informieren und ihn mit unseren «Herr, du weisst»-Formulierungen zu überzeugen versuchen, dass er sich unsere Lebensrealität aneignet? Das ist zu wenig. Geht es nicht vielmehr darum, dass wir uns seine Perspektive aneignen, seine Sicht der Dinge hören?


Natürlich entspricht es unserer Lebensrealität, dass Pauls Hund krank ist (um bei diesem banalen Beispiel zu bleiben) – das muss im Gebet weder schöngefärbt noch vergeistlicht werden. Aber unser menschliches Wissen auf Gott zu projizieren, ohne seine – vielleicht abweichende – Sicht der Dinge zu hören, das scheint mir eine verpasste Chance zu sein. Gebet heisst nicht, Gott zu erzählen, was er zu wissen hat, sondern von ihm zu hören, was er zu sagen hat.


Nochmals: Bete gerne weiter «Herr, du weisst», wenn du willst. Dein Gebet wird weder beobachtet noch bewertet. Nicht mal dann, wenn wir mal gemeinsam beten sollten. Und ich denke, Gott selbst ist da sehr entspannt. Er freut sich vor allem, wenn wir mit ihm reden und die Beziehung mit ihm pflegen. Das ist ihm wichtiger als die richtigen Worte oder Formulierungen.

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