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AutorenbildDave

Neulich im Wald

Aktualisiert: 2. Feb. 2021



Heute Morgen habe ich meine Bibel geöffnet und bin ganz unverhofft in einem Wald gelandet. Ich meine nicht einen dieser normalen Wälder, in denen die Bäume brav nebeneinanderstehen und sich nicht bewegen. Hier sind die Bäume sehr lebendig. Wenn du in diesem Wald in die Hände klatschst, klatschen die Bäume zurück. Und die vorwitzigen jungen Buchen jubeln sogar. Die Luft scheint vor Freude zu vibrieren. Manchmal beginnt eine Fichte zu tanzen. Wild schüttelt sie sich und singt dazu ein Lied über Freude und Sehnsucht. Hier gibt es Bäume, die sind so hoch und würdevoll wie Kathedralen. Und Blumen, die in den unbeschreiblichsten Farben schillern.


Ich setze mich auf einen bemoosten Stein, um die Szene zu beobachten und die Stimmung in mich aufzunehmen. In diesem Moment beginnt der Stein unter mir so laut zu singen, dass ich vor Schreck auf den weichen Moosboden falle. Die uralte Eiche neben mir biegt sich vor Lachen und ich muss unwillkürlich mitlachen. Der Stein hat wohl schon lange nicht mehr gesungen und ist etwas aus der Übung gekommen. Aber er singt laut und fröhlich mit weit geöffnetem Mund von seinem langen Leben und dankt dem Schöpfer, der ihn gemacht hat. Aus seinem Lied erfahre ich, dass hier einmal eine Wüste war. Kein Baum, nicht einmal ein Strauch, konnte hier wachsen, bis Gott die Schleusen des Himmels und die Quellen der Erde öffnete. Laut singt der Stein davon, wie die ersten Gräser und Blumen wuchsen. Wie die durstigen Wüstentiere herbeikamen und gierig vom Wasser tranken. Wie die Bäume Wurzeln schlugen und wie der Wald entstand. Der Stein beendet sein Lied, aber es ist, als nehme der ganze Wald seine Melodie auf. In diesem Wald ist es auf seltsame Weise zugleich ruhig und laut.


Da höre ich Schritte. Ein Mann stapft laut fluchend durch den Wald. Auf seinem Rücken trägt er – mit Riemen befestigt – einen schweren, metallenen Aktenschrank. In der einen Hand hält er eine Polaroid-Kamera, mit der anderen Hand versucht er die vibrierende Luft von seinen Augen fernzuhalten. Auf seinem Kopf trägt er einen grossen gelben Ohrenschutz. Ich schaue mir sein schweres Gepäck genauer an. Der Aktenschrank besitzt unzählige alphabetisch sortierte Schubladen, jede von ihnen akribisch beschriftet. Der Mann scheint am Boden etwas zu suchen, sein Blick wandert umher. Da bleibt er unvermittelt vor einer Blume stehen, stellt seinen Aktenschrank mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und schwingt seine Polaroid-Kamera herum. Schnell drückt er ab und wartet ungeduldig, bis die Kamera das Schwarzweissbild ausdruckt. Dann nimmt er einen Stift hervor und kritzelt auf die Rückseite des Bilds eine Bibelstelle. Mit seinem Finger fährt er am Schrank entlang, bis er die richtige Schublade gefunden hat. Er öffnet sie und legt das Bild hinein.


Dann legt er sich die Riemen wieder um die Schultern, steht mit lautem Ächzen auf und läuft mit schweren Schritten davon. Bald schon verschwindet er hinter dem nächsten Hügel. Der Mann wird keine Pause mehr einlegen, bis er den Wald verlassen hat und in seine sichere Studierstube eingekehrt ist. Dort wird er seinen Aktenschrank hinstellen, seine Fotos herausnehmen und sortieren. Dann wird er ein Plakat gestalten und die Leute zu einem Erzählabend einladen. Und er wird Bilder zeigen von einem schwarzweissen, unbewegten, stummen Wald und die Leute werden nicken und gähnen und Geld in den Korb legen und nach Hause gehen um fernzusehen.


Noch immer sitze ich im Moos. Die Bäume haben sich durch diesen Mann nicht vom Tanz abbringen lassen. Der Stein neben mir blickt mit seinen grossen Augen in die Ferne und denkt sich ein nächstes Lied aus. Der arme Mann. Er hat nicht gesehen, wie die Bäume tanzen. Er hat das Lied des Steins nicht gehört.


Und gerade als der Stein seinen Mund wieder öffnet, um laut loszusingen, fasse ich einen Entschluss: Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich meinen eigenen Aktenschrank mit all den mickrigen Schwarzweissfotos verbrennen. Meine Polaroidkamera werde ich mit aller Kraft an die Wand werfen, bis sie zerspringt. Ich werde meine Studierstube im kalten Steingebäude räumen und hierher in den Wald ziehen. Und ich werde aufhören mit den Erzählabenden. Stattdessen werde ich die Menschen hierher einladen, damit sie den Wald mit ihren eigenen Augen sehen.

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