Versöhnung ist Gottesdienst
- Dave

- 4. Dez.
- 6 Min. Lesezeit
Ein Mann, nennen wir ihn Amos, macht sich mit seinen drei ältesten Söhnen auf den Weg, sie beladen den Esel und verlassen das kleine Dorf in den Bergen Israels. Sein ältester Sohn treibt ein einjähriges Lamm vor sich her. Über Stock und Stein gehen sie, schlafen einmal auf dem freien Feld unter dem Sternenhimmel und kommen am nächsten Tag nach beschwerlicher Reise in Jerusalem an.

Sie machen sich frisch, essen etwas und geben ihren Tieren zu trinken, bevor Amos mit seinen kräftigen Armen das Opferlamm auf die Schulter nimmt und mit seinen Söhnen zum Tempel hinaufgeht. Ein freiwilliges Opfer. Sie sind nicht sehr früh dran, vor dem Tempel hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Einige haben Tauben in einem Käfig dabei, andere Mehl für ein Speiseopfer. Wieder andere versuchen, ihre Jungstiere und Ziegenböcke ruhig zu halten. Sie alle wollen vor Gott treten und ihm danken, ihn um Vergebung bitten oder sich ihm neu hingeben. Sie alle wollen Gott begegnen.
Amos sieht sich um und erschrickt - nicht weit vor ihm in der Schlange steht ein Mann, der zwei Tauben in den Händen hält. Ist das nicht Eli, sein verhasster Nachbar? Die Familien sind schon seit Generationen zestritten. Dieser Eli, da ist sich Amos ganz sicher, hat ihm vor wenigen Monaten das beste Kalb aus dem Stall gestohlen und weiterverkauft. Amos hat ihm zur Rache letzte Woche in einer nebligen Nacht das Weizenfeld angezündet.
Amos atmet schwer. Sein Puls geht hoch, seine schweissnassen Hände umklammern die Beine des Opferlamms. Die Schlange wird kürzer und bald schon ist der Mann mit den Tauben an der Reihe. Nachdem er seine beiden Tiere dem Leviten übergibt, dreht er sich ein bisschen zur Seite. Es ist nicht Eli. Der Griff von Amos' Händen lockert sich leicht. Und nun ist er dran. Der Levit steht mit offenen Armen vor ihm, um das Opferlamm in Empfang zu nehmen und zu begutachten. Da tritt Amos aus der Reihe heraus. Der Levit und die dabeistehenden Menschen schauen ihn verdutzt an.
"Ich...kann nicht", stammelt er und wendet sich dem Levit zu: "Hier, nimm das Lamm und bewahre es im Tempelvorhof auf. Ich komme wieder und werde dann opfern, so Gott will." Unter den erstaunten Blicken der Priester, der Leviten und der Menschenmenge packt Amos seine Söhne am Arm und verlässt mit ihnen den Tempel. Sie holen den Esel aus der Herberge und eilen aus der Stadt davon - dem Bergdorf zu.
Wir können uns vorstellen, was für einen Aufruhr das verursacht, wenn jemand einfach aus der Reihe ausschert und sein Opferlamm beim Altar lässt und unverrichteter Dinge wieder nach Hause geht.
Jesus sagt: Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe dort vor dem Altar; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder! Danach komm und bring Gott deine Gabe dar. (Mt 5,23-24)
Das Opfer kann warten. Gott nimmt in Kauf, dass er warten muss. Er gibt deinen Beziehungen und der Versöhnung mit deinen Mitmenschen Vorrang. Er freut sich an unseren Opfern, an unserer Zeit beim Altar - oder in heutigen Begriffen: Er freut sich, wenn wir ihm im Gottesdienst begegnen, wenn wir am Gebetsabend seine Hilfe suchen oder im Hauskreis über sein Wort austauschen.
Gott nimmt in Kauf, dass er warten muss.
Aber er ist auch bereit, zu warten. Gott interessiert sich nicht nur für die religiösen Aspekte deines Lebens, an der Anzahl Gottesdienste, die du besuchst oder den Kapiteln, die du täglich in der Bibel liest. Er interessiert sich für dein ganzes Leben, deine Beziehungen, und er möchte, dass du in versöhnten Beziehungen lebst. Das interessiert ihn so sehr, dass es sogar vorkommen kann, dass er dich wieder nach Hause schickt, um diese Dinge zuerst anzugehen.
Dieser Vers löst für mich auf eine wunderbare Art und Weise diese Trennung auf, die wir zwischen sakral und profan, zwischen heilig und weltlich manchmal aufstellen. Und ich finde, er sagt etwas Bedeutungsvolles über das Herz Gottes aus. Für Gott gehört die Versöhnung mit dem Bruder oder der Schwester genauso zum Gottesdienst wie das Opfer und der Altar.
Was könnte dieser Vers also für dich heute bedeuten?
Wenn du unterwegs zum Gottesdienst bist und dir in den Sinn kommt, dass dein Nachbar wütend auf dich ist, weil ihr euch wegen irgend einer Geschichte in der Waschküche gestritten habt...
Oder wenn du die Jacke anziehst, um zum Gemeindegebetsabend zu gehen und dich dann erinnerst, dass du heute Morgen mit deinem Kind sehr zynisch gesprochen hast...
Oder wenn ihr am Dienstagabend die letzten Vorbereitungen trefft, um den Hauskreis bei euch willkommen zu heissen, aber die Luft ziemlich dick ist, weil ihr beim Abwasch nach dem Abendessen als Ehepaar einen riesigen Streit hattet...
...ja, was dann? Dann wäre es viel leichter, die Erinnerung einfach zu verdrängen und einen schönen Gottesdienst, Hauskreis, Gebetsabend zu verbringen. Du würdest keinen Aufruhr stiften, du würdest nichts durcheinander bringen und deine Fassade würde gewahrt bleiben.
Es wäre leichter gewesen für Amos, in der Reihe zu bleiben, und das Lamm ordnungsgemäss zu opfern. Man hätte ihn für einen frommen Menschen gehalten und es hätte keinen Aufruhr gegeben. Und er hätte sich zwei beschwerliche Wegstrecken sparen können.
Aber es wäre reine Pflichterfüllung gewesen. Er hätte Gott mit seinen Lippen und seinem Opfer gelobt, aber sein Herz wäre fern von Gott gewesen. Gott aber interessiert sich für unser Herz weit mehr als für unsere Opfer.
Gott interessiert sich für unser Herz weit mehr als für unsere Opfer.
Wenn wir also Momente haben, in denen wir uns erinnern, oder auch von Gott erinnert werden, dass unser Bruder oder unsere Schwester etwas gegen uns hat - also von uns verletzt wurden oder einen Groll gegen uns hegen, weil wir an ihnen schuldig geworden sind - dann rät uns Jesus, das geplante Opfer abzusagen. Die Lobpreiszeit kurz zu verlassen und zum Telefon zu greifen, um den Nachbarn anzurufen. Den Gebetsabend zu verpassen und sich zuerst mit seinen Kindern zu versöhnen. Dieser Gott interessiert sich nicht nur für unseren nächsten Gottesdienstbesuch, sondern für unser Leben in all seinen Beziehungen.
Spüren wir hier etwas von Gottes Herz, der uns nicht einfach ein weiteres Gebot oder eine Last aufbürden will?
Versöhnung
Zurück zu Amos. Er und seine Söhne haben all ihre Pläne über den Haufen geworfen und die Wanderung nach Hause in einem Tag zurückgelegt. Es ist schon dunkel, als sie im Bergdorf ankommen. Schwer atmend und völlig verschwitzt übergibt Amos den Esel seinen Söhnen. Den Dolch, den er zum Schutz vor Räubern am Gürtel trägt, bindet er schnell los und gibt ihn seinem ältesten Sohn. Dann wendet er sich um und geht mit grossen Schritten auf das Haus von Eli zu. Er klopft an der schweren Holztüre.
Eli öffnet - die Öllampe in seiner Hand wirft ein schwaches Licht auf den schmutzigen und verschwitzen Amos, der betreten auf den Boden schaut. "Eli, ich...wollte opfern, aber ich kann nicht", bricht es aus Amos hervor, "ich muss mich mit dir versöhnen."
Ich weiss nicht, an welche Situation du dich gerade erinnerst oder von Gott erinnert wirst. Welche Sache zwischen dir und einem Bruder oder einer Schwester steht. Nicht immer ist es mit einem kurzen Telefonanruf erledigt, nicht immer geht die Versöhnung schnell, manchmal ist es ein Prozess, der Zeit braucht, manchmal braucht man auch Hilfe von aussen.
Wenn Jesus uns von unseren religiösen Aktivitäten, von unseren Opfern und Altären wegschickt zur Versöhnung, dann kann es ganz unverhofft passieren, dass wir an diesem Ort der Versöhnung Gott antreffen. Dass etwas von der Gnade und Freundlichkeit Gottes spürbar wird, wenn zwei Menschen sich wieder versöhnen und einander vergeben und sich wieder in die Augen sehen können.
Das könnte dir auch passieren. Dass du - es kling paradox - Gott begegnest, während du einen Gottesdienst verpasst, weil du dich mit deinem Bruder oder deiner Schwester versöhnst.
Ich kann dir keine Versprechungen geben, dass Versöhnung geschehen wird. Dafür benötigt es zwei, und wir können andere Menschen nicht kontrollieren. Und wir sollten uns davor hüten, ihnen Druck zu machen oder sie zur Versöhnung zu zwingen. Aber es lohnt sich auf jeden Fall, diesen Weg zu gehen und die Schritte zu unternehmen, die in unserer Macht stehen.
Nun steht Amos immer noch in der Türe von Elis Haus und die Geschichte muss enden. Vielleicht schlägt Eli vor Amos die Türe zu. Vielleicht bittet er ihn herein. Vielleicht fällt er ihm auch um den Hals.
Ich verrate es dir nicht. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, weil Amos getan hat, was in seiner Macht stand. Er ist auf seinen Bruder, auf seinen Nachbarn zugegangen und hat ihm Versöhnung angeboten.
Er kann am folgenden Tag mit freiem Herzen nach Jerusalem zurückkehren, sein Opferlamm im Tempelvorhof abholen und mit seinen Söhnen ein Opfer darbringen - und Gott freut sich sehr daran.












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