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  • AutorenbildDave

Zurück in den Garten


Längst zerrissen sind die Kleider, doch sie verdecken nichts Attraktives mehr. Die alte, runzlige Haut hängt schlaff an den beiden herab. Mit vorsichtigen Schritten gehen sie barfuss über den verfluchten Acker. Messerscharfe Dornen reissen ihnen die ledrigen Fusssohlen auf, Wie oft sind sie diesen Weg in Gedanken zurückgegangen, zerrissen zwischen Sehnsucht und Scham.


Die Einladung zum Fest hat sie völlig unerwartet erreicht. Ein fröhliches Kinderfest soll im Garten stattfinden und beide seien eingeladen! Die beiden hatten zuerst zynisch gelacht und den Brief beiseitegelegt. Da musste sich jemand einen Scherz erlaubt haben, der von ihrer tragischen Geschichte gehört hatte. Doch schliesslich nahm die Sehnsucht überhand: Was, wenn die Einladung echt wäre?


Schweigend gehen sie. Er hält die Frucht, sie die Einladung. Sie schauen sich nicht an – sie sind nackt und schämen sich. Beim Feigenbaum hatten sie kurz Halt gemacht, wollten einige Blätter pflücken, um damit die grossen Löcher in den Kleidern zu bedecken. Doch der Baum war bis zu den Wurzeln verdorrt. Jemand musste ihn verflucht haben.


Im Osten liegt der Garten. Die beiden halten Ausschau nach den mächtigen Engeln, die den Zugang zum Garten mit kreisenden Flammenschwertern versperren. Doch als sie den Eingang erreichen, stehen dort keine Engel mehr. Das offene Gartentor quietscht leise im Wind. Vorsichtig treten sie ein. Es fühlt sich verboten an, diesen Ort zu betreten.


Beinahe wären sie über das tote Tier gestolpert. Kalt und regungslos liegt es am Boden. Sein Kopf ist völlig zerschmettert, als wäre er mit einem Hammer zerschlagen worden. Blutverschmiert und in sich gekrümmt liegt die alte Schlange da. Neben ihr steht – breit grinsend – ein Mann in weissen Kleidern. An seinem rechten Fuss prangt eine grosse Narbe – das Zeichen einer vergangenen tödlichen Wunde. Der Mann blickt die beiden freundlich an und streckt seine Hände zum Mann aus, um die Frucht von ihm entgegenzunehmen.


Der Mann blickt auf die Frucht. Zwei Stücke sind herausgebissen worden, doch sie sieht immer noch frisch und verführerisch aus. Noch immer verspricht sie Leben und Unsterblichkeit, Erkenntnis von Gut und Böse. Es ist nicht einfach, sie loszulassen. Doch was hat sie ihnen gebracht ausser Tod und Unheil? Er streckt seine Hand aus und gibt die Frucht dem geheimnisvollen Mann. Dieser nimmt sie behutsam entgegen und winkt den beiden mit der Hand: «Kommt mit, ich führe euch zu ihm.»


Es ist Abend geworden. Nur leise rauscht der Wind durch die Blätter. Ein tiefer Friede legt sich auf den Garten. Der Mann geht voraus, die beiden Menschen folgen ihm. Der weiche Moosboden schmiegt sich an ihre zerschundenen Füsse und lässt die Schmerzen verschwinden. Der Mann bleibt stehen und zeigt nach vorne: «Er erwartet euch bereits.» Und da sehen sie ihn. Aus der Stille des Gartens kommt er ihnen langsam entgegen. Die beiden Menschen können sich nicht mehr halten. Sie laufen los, so schnell sie ihre alten Beine tragen. Er beginnt zu lachen, als sie auf ihn zulaufen. Innig schliesst er sie in seine Arme, umfasst ihre schrumpelige Haut. Alle drei weinen.


«Schön, dass ihr gekommen seid», sagt er, «heute Abend gibt es ein Fest. Ich habe weisse Kleider für euch mitgebracht. Es gibt Zuckerwatte und Limonade. Der Heilige Geist kommt auch und bringt einen Kuchen mit. Wenn es dunkel ist, machen wir ein Lagerfeuer. Und dann werden wir einander Geschichten und Witze erzählen. Und wir werden singen!» Verwundert schauen Adam und Eva zu Gott hoch. Dann schauen sie einander – zum ersten Mal seit Jahrtausenden – an. Sie sind wieder zu Kindern geworden.



Ist dieser Text nur eine törichte Spekulation? Eine haarscharf an der Häresie vorbeischrammende theologische Spinnerei? Oder könnte es tatsächlich wahr sein, dass die Gartentür wieder offen ist, dass Gott darauf wartet, dass seine alten Kinder wieder nach Hause kommen? Mach dich zurück auf den Weg und finde es heraus.

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